Stephen Hawking ✝

In einem meiner Lieblings-Läden in Köln, dem MusicStore in Kalk, gibt es an der Warenausgabe eine makabre Pinnwand: Da hängen Fotos von Promis, die uns im laufenden Jahr verlassen haben. Kenny Baker hing da, der Typ, der R2D2 gespielt hat, Prince natürlich, David Bowie erst recht, Lemmy Kilmister, erschreckend schwarzweiß, Bud Spencer ... und es werden jedesmal mehr, immer mehr, Monat für Monat, bis spätestens um Weihnachten herum praktisch jeder Quadratzentimeter bedeckt ist von Fotos, die man da eigentlich gar nicht sehen möchte, weil die Leute darauf, die einem vielleicht mal Orientierung gegeben haben, nicht mehr sind.

 

Das macht Einkaufen in dem Laden mit bald 52 Jahren zu einer makabren Erfahrung, denn irgendwann wird einem klar: Die Typen auf den Bildern sind keine alten Knacker, die man schon zeitlebens ohnehin eher tot als lebendig wahrgenommen hat – so vom Typ Jean Gabin vielleicht, den man in meinem Alter, wenn überhaupt, nur noch in seinem Spätwerk wahrgenommen hat, mit schlurfendem Gang statt dem Feuer der jungen Jahre im Blick, den die Eltern noch kannten und der ihnen eine Gänsehaut bereitete. Im MusicStore hängen Leute, die einen seit Jahrzehnten begleitet und nun ihren Hut genommen haben. 

 

Jetzt wird es Zeit für ein neues Foto. Und das tut mir besonders weh: Stephen Hawking ist aus und vorbei, seit dem 14. März so weit weg, als hätte ihn eins seiner schwarzen Löcher verschluckt. Verschwunden hinter dem Ereignishorizont. 

 

Schwer zu sagen, was mich daran so anfasst. Ehrlich gesagt, hatte ich überhaupt keine Ahnung, dass der Mann es mittlerweile überhaupt auf 76 Jahre gebracht hat. Er war halt immer da, die ganze Zeit. Wie viele meiner Generation habe ich die Arbeit dieses Wissenschaftlers seit den 1980er Jahren verfolgt, auch wenn ich höchstens im Ansatz verstanden hatte, woran er arbeitete. Mich totgelacht, wenn er – bzw. die Stimme seines Sprachcomputers – in einer Folge der Big Bang Theorie auftauchte. Die konzeptionelle Schönheit der Sache mit der Hawking-Strahlung bewundert und die Augenbraue gehoben, als er erst neulich noch damit rüberkam, dass schwarze Löcher gar nicht schwarz, sondern grau seien, da müsse er sich jetzt leider entschuldigen, weil da aus quantenmechanischen Gründen zwar Masse, aber nun mal keine Informationen drin verschwinden dürften, weswegen Black Holes jetzt doch irgendwie mit dem Universum in Verbindung stehen müssten und daher wohl doch nicht so schwarz seien, wie er immer dachte. Auch, wenn sich das erst in einer Anzahl von Jahren bemerkbar machen würde, deren Nullen kaum auf diese Seite passen. Wow. 

 

Und vor allem war ich mir sicher, dass er irgendwann mit der Weltformel um die Ecke kommt, sowas wie E=mc2, nur cooler. Quantenmechanik und Gravitation in einer Formel vereint. Wenn einer das hinkriegt, dann der, dachte ich. Nachdem jetzt schon die ersten Gravitationswellen in den Detektoren der Physiker hängengeblieben waren, konnte das ja nur eine Frage der Zeit sein.

 

Und nun das. Ich weiß nicht, was ich gedacht habe, als ich von seinem Tod erfahren habe. Es war so beiläufig. Spiegel Online? Was denkt man da? Bei mir war es irgendwas in der Richtung "Scheiße, die Weltformel" und "Der ist also auch nur ein Mensch" - mit Frage- statt Ausrufungszeichen. 

 

Aber ich glaube, das ist genau der Punkt. Mal abgesehen von dem, was man jetzt überall so liest, von wegen "Rollstuhlphysiker" und Auflehnung gegen die Krankheit ALS, die andere schon nach wenigen Jahren umbringt: Was mich am meisten betroffen macht, ist glaube ich, dass man auch, wenn man sich über die größten Geheimnisse des Universums Gedanken macht, letztlich nur Staub ist. Nur dass wir Menschen eben das Glück haben, das, was sich um uns herum abspielt, wenigstens im Ansatz begreifen zu können. Man kann ganz klein sein und sich trotzdem aufrichten und das ganz Große sehen. Zumindest danach suchen. Es bestaunen. Und wenn man scheitert, beim Versuch, es zu erklären, dann in Würde. Und wenn man irgendwann einsehen muss, dass ein Leben nicht reicht, das zu verstehen, dann ist das eben so. Das macht das Wunder unserer Existenz nur größer.

 

Letztlich wird dadurch sogar der Tod erträglich - aber anders, als die Religionen sagen: Weil er der Preis ist für das, was wir alles sehen können, wenn wir nur wollen. Wichtig: Den Preis zahlen wir alle. Aber für die Show haben nur ganz wenige ein Auge – und die Show, das sind nicht nur schwarze Löcher in den Zentren unserer Galaxien und die krassen Formeln dahinter, sondern auch ganz simple Dinge: etwa Laub, durch das Sonnenlicht fällt.

 

Ein anderer großer Sternengucker, der Astrophysiker Carl Sagan, hat einmal gesagt: "Durch uns erkennt das Universum sich selbst". Im Moment des Todes stirbt also nicht nur der Mensch, sondern auch etwas, durch das diese wunderbare Welt sich selbst bewundert und bestaunt und ja: liebt. Und dieses Staunen dürfte bei Stephen Hawking größer gewesen sein als bei den meisten von uns, weil er mehr zu sehen in der Lage war als wir alle. Letztlich ist das auch der Grund, aus dem ich mal Chemie studiert habe: Nicht um Kohle zu machen, sondern um zu verstehen und mich ein ganz, ganz kleines Stück mehr freuen zu können über all das großartige, das uns umgibt. 

 

Aber anstatt weiter über mich zu schreiben, zitiere ich hier einmal die letzte Botschaft, die Stephen Hawking an uns gerichtet hat. Sie ist bemerkenswert:

 

"Es war eine großartige Zeit, am Leben zu sein und in theoretischer Physik zu forschen. Unser Bild vom Universum hat sich in den vergangenen 50 Jahren sehr verändert. Und ich bin glücklich, wenn ich einen kleinen Beitrag dazu leisten konnte. Denkt dran, hinauf zu den Sternen zu blicken statt auf eure Füße! Versucht dem, was ihr seht, einen Sinn zu geben, und fragt euch, was das Universum existieren lässt. Seid neugierig! Wie schwer auch immer das Leben scheinen mag, so gibt es doch immer etwas, was ihr tun und worin ihr erfolgreich sein könnt. Es ist wichtig, dass ihr niemals aufgebt."

 

Stephen Hawking war kein kalter Wissenschaftler, der mit unglaublichen Formeln jongliert, die außer ihm nur zehn, zwanzig andere Leute auf diesem Planeten verstanden haben. Sondern eine zutiefst humane, menschliche, mitfühlende Persönlichkeit. Die meisten meinen ja, das läge an seiner Krankheit, die ihn demütig gemacht habe. Ich glaube dagegen: Es lag an den Dingen, mit denen er sich beschäftigt und die er vielleicht ein Stück weit verstanden hat. 

 

Eine gute Freundin meinte neulich: Vielleicht kennt er die Weltformel ja jetzt. Und kann sie uns nur nicht mehr mitteilen. Hawking war da ganz anderer Ansicht: Tot ist tot, Prozessor kaputt, da gibt es keinen Reset, gar einen Neustart unter einem neuen Betriebssystem. Der Tod ist die Singularität des Geistes.

 

Aber wer weiß. Ich gönne ihm, dass er sich hier mal geirrt hat.

 

Ich werde eine meiner nächsten Arbeiten Stephen Hawking widmen.