Irgendwo im Ruhrgebiet, genau genommen etwas südlich von Bochum, noch genauer: in dem kleinen Fachwerk-Städtchen Hattingen, gar nicht so weit von der Stelle entfernt, wo die ersten Bergleute vor vielen Jahrzehnten die erste Kohle noch praktisch von Hand aus der Erde gegraben haben, gibt es ein Hotel namens Schulenburg. Gut, keine Ruine mit verwittertem Turm: gediegenes Äußeres, das eher an eine alte Villa erinnert, in der einem gleich Thomas Mann im weißen Anzug guten Tag sagt. Aber immerhin.
Wie es drinnen aussieht, weiß ich leider nicht. Dieses Lokal soll hier auch nur insoweit Erwähnung finden, als es dort einen großen Parkplatz gibt, von dem aus man sich zu Fuß auf recht verschlungenen Waldwegen zu einem wirklich bemerkenswerten Landgasthof aufmachen kann: dem Bergerhof. Ein paar Kilometer Auf und Ab, in deren Verlauf man von einigen Kubikkilometern staunenswerter Aussichten überrascht wird und seinen Fuß ganz still auch mal in ein, zwei echte Bäche tupfen kann – bis man nach ein paar Kilometern, fast besoffen von Tannenduft, endlich ankommt: Biergarten, Landmetzgerei, Tische mit Bio-Marmelade, Kartoffeln und Feldfrüchten, die einige der von den Besuchern mitgeschleppten Kids noch nie gesehen haben dürften. Selbst das angeschlossene Maislabyrinth funktioniert ohne Bildschirm und Joystick, so analog ist der Laden.
OK, auch der Bergerhof hat einen Parkplatz, man könnte also auch da einfach hinfahren. Aber dann würde das Folgende nicht funktionieren. Denn das eigentlich Besondere an diesem Ort sind nicht Bier, Brezel & Co. Es ist die Menagerie von Sprüchen und Weisheiten, mit denen die Betreiber die letzten 100 Meter zu den Tischen flankiert haben. Auf Zettel geschrieben, ach was: kalligraphiert und in Stein gemeißelt, hinter Efeu versteckt und von Moos bewachsen – eine Art Kreuzweg für Ich-Sucher, nur dass am Ende nicht der Römer mit dem Hammer steht, sondern eine tiefe, friedliche Ruhe liegt.
Wie kommt das? Nun, vielleicht liegt es daran, dass unser Hirn schon nach dieser kleinen Wanderung so matschig ist wie ein Mecklenburger Acker, der auf die Aussaat wartet – und dann stehen da plötzlich diese Sprüche, die im leeren Kopf hallen wie ein laut gesprochener Satz in einer nächtlichen Kathedrale. Kein Wunder, dass man seine Schritte dann immer langsamer setzt. Das Zeug hallt halt nach.
Eine dieser Weisheiten ist mir im Gedächtnis geblieben, obwohl ich das letzte Mal vor rund zehn Jahren am Bergerhof war:
Als Gott die Zeit schuf, machte er genug davon.
Ein Satz wie ein Gongschlag, finde ich. OK: Mir fallen auf Anhieb zehn Dinge ein, von denen Gott ganz eindeutig nicht genug gemacht hat. Geduldige Menschen zum Beispiel (ich wär auch gern einer geworden). Ferientage. Geld auf meinem Konto. Und, na ja, seltsam: Zeit eigentlich auch. Reicht ja nie. Oder?
Darum fiel mir diese Botschaft aus dem Hattinger Wald neulich wieder ein, als mich eine Mail eines netten Bekannten erreichte. Ich hatte lange nichts mehr von ihm gehört, zuletzt war er mir vor Monaten bei einem Spaziergang am Rhein über den Weg gelaufen, Hand in Hand mit seiner Freundin. In der Zwischenzeit war er aber offenbar fleißig gewesen: Eines Tages hat er die Ärmel hochgekrempelt und – um die 50 – sein Leben noch einmal komplett in den Mixer geworfen. Resultat: Hochzeit, neuer Job, der endlich Spaß macht und Freiraum für „kreatives Schaffen“ bietet – und siehe da: plötzlich ist wieder Zeit für Musik, der eigentlich immer sein Herz gehörte, die aber zum Schluss nur noch so nebenher lief. Keine Zeit halt.
Ich weiß nicht, ob es in diesem konkreten Fall zutrifft, aber mich erinnert das an eine Erfahrung, die ich schon öfter gemacht habe: dass Zeit ein seltsames Tier ist, das flieht, sobald man es fangen will, und einen genau dann herzen kommt, wenn man sich frustriert abwendet. Man kann wochenlang um‘s Verrecken keine halbe Minute für das nächste Herzensprojekt aus dem Kalender winden – aber in dem Moment, in dem man es doch irgendwie anfängt, ist die Zeit dafür plötzlich da. Und seltsamerweise fehlt sie trotzdem nirgendwo anders.
Vielleicht hat Gott die Zeit ja tatsächlich auf eine seltsame Art elastisch gemacht. Oder: magnetisch. Jedenfalls dafür gesorgt, dass gute Zeit mehr gute Zeit anzieht.
Aber wie kann das sein, wenn der Zeitstrahl doch eigentlich starr ist? Stoppuhren ist es völlig egal, wer auf Start drückt, sie laufen immer gleich schnell. Jetzt von seltsamen Phänomenen in der Nähe schwarzer Löcher mal abgesehen.
Wenn die Zeit als physikalische Dimension also so rigide ist wie ein tiefgekühlter Wolframstab – vielleicht liegt die Ursache ja in uns? Vielleicht liegt die Kunst ja darin, zu akzeptieren, dass man eben keine Zeit sparen oder gar schinden kann. Unsere Zeit läuft immer durch und ist irgendwann zu Ende. Vielleicht sollten wir, statt zu versuchen, immer mehr Zeit zu schinden, um irgendwann ein paar kostbare Stunden für schöne Dinge zu sparen, durchatmen und stattdessen lernen, unsere knappen Tage möglichst oft in eine möglichst ununterbrochene Folge von ein paar Millisekunden Glück aufzulösen.
Was bedeutet das? Nun, erst einmal ist es wichtig, festzuhalten: Die Sache ist überhaupt nicht schwer. Es verlangt nur, die Sinne ab und zu einfach mal von der Leine zu lassen. Das Hirn einfach mal mit dem füttern, wofür es entwickelt wurde: Sehen, riechen, hören, fühlen. Denn das Paradoxon unserer Zeit ist: Das Meiste, mit dem wir uns täglich beschäftigen, erschöpft uns zwar, lastet uns aber nicht einmal im Ansatz aus. Arbeiten bedeutet heute in den meisten Fällen, immer wieder denselben Zögling an derselben Stelle in den Boden zu rammen, statt in derselben Zeit in aller Ruhe einen Wald zu pflanzen.
Wenn die Rechenkapazität unseres Denkwerks dagegen ein paar Mal am Tag komplett mit der stillen Betrachtung der Umwelt oder anderer schöner Dinge beschäftigt ist, mag mancher spüren, dass er selbst dabei verschwindet und für einen kleinen Moment in allem anderen aufgeht. Was man natürlich erst hinterher bemerkt. Das ist der Haken. Aber ein schöner.
Wie ein mir bekannter Arzt einmal sagte: Wenn Sie Ihr Hirn nicht angemessen beschäftigen, sucht es sich eigene Aufgaben. Und kreist dann eben um das, womit es sich am besten auskennt: Nachzugrübeln über unsere Sorgen und Ängste, um nur ja keine Gefahr zu übersehen. Und schon hat man das Gefühl, niemals genug Zeit zu haben, um all diesen Mist, den wir Lebenslauf nennen, jemals auf die verdammte Kette zu kriegen.
Wer dagegen einmal etwas anfängt, was die Seele so richtig tief drin kitzelt, der erfährt, wie viel Erfüllung selbst in winzigen Momenten liegen kann, wie viel Welt da reinpasst. Und diese Erfahrung macht dann irgendwie auch die übrige Zeit biegsam und geschmeidig. Kurz: Es kommt nicht darauf an, irgendwie mehr Zeit zu erschaffen – das können wir nicht. Aber wir können die Zeit, die wir haben, mit mehr Eindrücken füllen. Und genau dafür sind wir gemacht.
Das Schöne: Man muss kein Picasso oder Thomas Mann sein, um das zu erfahren. Nicht mal einen Pinsel halten können oder wissen, wo am Klavier das zweigestrichene C ist. Auch die aufmerksame, sinnfreie Betrachtung von Dingen oder Augenblicken kann eine Kunst sein! Einfach mal raus und ohne Pokemon Go in der Tasche zweckfrei durch einen Wald schlurfen, an frisch gesägtem Holz riechen, den Vögeln zuhören und drüber staunen, wie wahnsinnig geil es ist, das alles um sich zu haben und mittendrin zu sein – zum Beispiel eben auf einem wunderbaren Spaziergang von der Schulenburg zum Bergerhof.
Im Prinzip ist dieses bewusste Springen in den Fluss der Gegenwart nichts anderes als: Achtsamkeit. Oder Flow. Nennen Sie es, wie Sie wollen. Aber wer mit Meditation im Sinne von Herumsitzen und an gar nichts denken nicht klar kommt, der sollte es vielleicht mal mit dem Gegenteil versuchen – und die Scheunentore, die unsere Sinne darstellen, weit aufreißen. Letztlich ist auch das bewusste Wahrnehmen nichts anderes als: Meditation. Ein gedankenfreier Zustand, nur aus einer anderen Richtung gesehen.
Wir haben tatsächlich genug Zeit. Wir sollten sie nur besser nutzen. Um es mal zugespitzt zu sagen: Erst, wenn wir unsere Zeit verschwenden, fließt sie uns zu.