Ich mag Rap nicht, aber …

Ich mag Rap nicht. Das schicke ich mal vorweg. Das wird ja heute von jemandem erwartet, der eine Meinung hat. Also vorweg zu schicken, dass man, wenn man schon für oder gegen bestimmte Dinge Stellung bezieht, doch irgendwie zu den Guten gehört. Keine Angst: Ich finde Blau zwar doof, aber Farben an sich schon in Ordnung. Irgendwie so. Keine Angst also. Ich meine es gut.

 

Aber ich mag wirklich keinen Rap. Schon allein deshalb, weil ich an einer Ampelkreuzung wohne und gefühlt 112 mal am Tag von rhythmischem Geschimpfe aus den Gedanken gerissen werde – aus irgendwelchen Megaboxen, mit denen sich ein Nordseetanker den Weg im dichtesten Nebel freiblasen könnte. Und ja, ich gebe zu: Ab und zu frage ich mich, was das für Leute sind, die sich immer wieder dafür entscheiden, sich von schlecht gelaunter Musik schlecht gelaunter junger Supermachos durch den Tag begleiten zu lassen.

 

TROTZDEM finde ich die derzeitige Aufregung über die Echo-Preisverleihung überzogen, in der zwei größtspurige Goldankerkettchenträger dafür geehrt wurden, dass sie ganz offensichtlich eine Menge junger Leute gefunden haben, die ihr Taschengeld für die, nun ja: Musik dieser Jungs ausgegeben haben.

 

Vor allem aber tut mir Campino leid. Einer der Helden meiner Jugend. Hach.

 

Wahrscheinlich muss ich das erklären. 

 

Ich fange mal so an: Rap ist nicht die einzige Musik, für die ich nie im Leben auch nur 50 Cent ausgeben würde. Freejazz etwa gehört auch dazu. Oder allgemein alles, bei dem Melodien vorkommen, die über mehr als achtzehn Takte gehen. Oder Werke, in denen der Quintenzirkel als zu überwindende Zumutung gilt. 

 

Ich weiß, das ist peinlich: Als Künstler leistet man ja schon fast einen Offenbarungseid, wenn man zugibt, dass im Atelier nicht 24/7 Thelonius Monk läuft. Zudem fordert mir diese Kolumne das zugegebenermaßen wenig willkommene Zugeständnis ab, mich einmal dafür zu entschuldigen, dass ich tatsächlich einen Helene Fischer-Song besitze, für den ich Steve Jobs mal glatte 1,29 Euro rübergereicht habe. „Atemlos“ hat, finde ich, einen geilen Groove. Aber als junger Mann habe ich ja auch ABBA gehört. Da macht das jetzt auch nichts mehr.

 

Andersherum finde ich, dass Rap gar nicht mehr so abscheulich ist, wenn man ihn einmal anders betrachtet, als er sich selbst sieht. Als eine Art intellektuellen Gegenentwurf zu Mozart, gewissermaßen. Als Musik, die ganz bewusst jedes auch nur entfernt tiefergehenden musikalischen Inhalts entblättert ist. Die Ursprünge des Raps liegen ja im sogenannten Sampling, also des, sagen wir es ruhig unverblümt, Zusammenklauens der Tonspur, die man benötigt, um seine Inhalte zu transportieren. Eine Vorgehensweise übrigens, die mir bei meiner visuellen Arbeit auch nicht eben fremd ist, auch wenn ich nicht klaue, sondern mir aneigne.

 

Also: Man klaute sich die Musik zusammen, um was zu tun? Um den nötigen Hintergrund für seine Texte zu haben. Ich sag‘ mal so: Rap ist in gewisser Weise die Renaissance der Lyrik. Die dringend benötigte Renaissance. 

 

Mal im Ernst: Wer hat denn jemals ein, sagen wir mal, Pink Floyd-Album gekauft, weil die Texte so geil waren? Ich weiß, jeder behauptet das, aber den meisten ging es doch eigentlich nur darum, den passenden Soundtrack zum Abend mit der neuen Flamme oder zumindest für den nächsten Joint zu haben. Ich wette, das ging sogar guten zwei Drittel der Talking Head-Fans so – und die galten immerhin als die Hornbrillenträger unter den Konsumenten (halbwegs) populärer Musik. Musik zählt! Texte waren dagegen eine Art Gemüse, das man mitisst, damit man das Steak ohne schlechtes Gewissen haben darf. 

 

Was also bleibt, wenn man die Musik zum Text auf ein paar Bummbumm-Loops reduziert? Was bleibt, wenn man verstiegene, künstlerische Akkordfolgen (wobei man die meisten Rock-Songs eh mit drei bis vier Griffen auf der Gitarre nachspielen kann) auf ein paar wohlplatzierte Kickdrums aus einem nur noch von Gaffa-Tape zusammen gehaltenen Minimoog-Clone eindampft? Richtig: Text. 

 

Also: Rap, das ist ganz einfach: höchstaktuelle, zeitgenössischste Lyrik, begleitet von einem Minimum an Tonmaterial, damit das Ganze irgendwie als Musik durchgeht und bei M-TV gespielt werden kann. 

 

Das ist übrigens keine Sache der Neuzeit – im Gegenteil: Schon die alten Griechen und sogar Römer pflegten ihre Gedichte zum Klang einer Lyra vorzutragen. Das Saitenzupfen zu diversen Epen über etruskische Helden war Beiwerk: Hier und da ein paar äolische Tonfolgen, damit die Tränen auch wirklich an der richtigen Stelle kullern (Äolisch ist eine Art Vorläufer unserer Moll-Tonleitern).

 

Aber, höre ich die Leute jetzt sagen: diese dummen, antisemitischen, menschenverachtenden Texte! Diese Zeile mit den Auschwitz-Insassen! Das geht doch nicht! 

 

Richtig! Und auch wieder nicht. Tatsächlich ist das der springende Punkt, über den leider auch mein Held Campino gestolpert ist: Kollegah und Farid Bang mögen in ihrem täglichen Workout über die Hirn-Kernschmelze hinaus temperierte Dumpfbacken sein. Und klar: Diese Zeile, die ich hier nicht zitieren möchte – wie viele andere – ist nur, nur, nur ekelhaft. Man möchte kotzen. Punkt.

 

Aber: Bis jetzt hat couragierte Lyrik, haben Dichter, haben Künstler, die wirklich etwas zu sagen hatten, immer noch die Welt gespiegelt, in der sie leben. Lyrik bedeutet nicht, irgendwas mit Rosen zu schreiben, das sich am besten auch noch reimt oder, für Kreuzberger Hipster, von feuchtem Laub handelt und den strengen Formalia eines Haiku gerecht wird. Lyriker sein bedeutet, Zeilen zu verfassen, die weh tun, weil sie uns die Rechnung bringen. Heinrich Heine, Emile Zola, das ist Literatur. Frank Schätzing, um nur einen von tausenden zu nennen, eher nicht so. Der ist Unterhaltung. Francis Bacon ist wiederum Kunst, weil er den Menschen auf das reduziert, was er heute ist oder werden zu drohen wird: denkendes Fleisch, das vergeblich Sinn in seinem Dasein sucht. Genau darum ist Rap auch Kunst.

 

Rapper, und seien sie noch so matte Kerzen auf der Torte, reagieren auf die Welt, in der sie leben. Und die ist womöglich wirklich so krank, wie sich ihre Texte anhören. Ich meine: höhere Bildung – wenn die Eltern Eisenbieger sind? Kannste vergessen – last Exit Drogenhandel. Und nach der Hauptschule gibt‘s dann Hartz IV mitsamt Altersarmut und Schikanierung durch Beamte in der Jobagentur, die vom Blick auf‘s Große Ganze Sonnenbrand bekämen wie Vampire, deren Sargdeckel man bei Tageslicht anhebt. 

 

Vielleicht ist die Welt ja tatsächlich so, wie Kollegah und Kollegen sie sehen: Kalt, empathiefrei, voller Hass auf Schwule, Ausländer, Frauen, Schwächere halt oder auf die Leute, die politische Korrektheit als alternativlos bezeichnen, körperfixiert, geldgeil. Dazu muss man sich verhalten. Und sich anzupassen und den Wahnsinn gar zu spiegeln ist vielleicht nicht die schlechteste Strategie, wenn man durchkommen will.

 

Aus irgendeinem Grund müssen sich die Rap-Fans in dieser Musik ja wiederfinden. Mal im Ernst: Es kostet doch Kraft heute, nicht geldgeil zu sein. Und wer kann, bereichert sich auf Kosten von Schwächeren – und gilt dann als trickreicher Kaufmann. Genau das bilden Kollegah und Bang ab und treiben es auf die Spitze. Man muss das nicht gut finden. Aber Rap ist erst einmal nur eine arg subjektive, zugespitzte Beschreibung der Welt, mit der diese Jungs klarkommen müssen.

 

Die eigentliche Frage ist: Warum finden auch normale Kids Zeilen wie die mit den KZ-Verhungerten und einige vielleicht weniger krasse, aber immer noch massiv kranke, narzisstische Text-Rülpser, irgendwie cool? Vielleicht, weil die Botschaften – System Trump – irgendwie einfach den gefühlt „richtigen“ in die Fresse hauen? 

 

Oder weil sie spüren, dass hier längst etwas aus dem Ruder gelaufen ist? Vielleicht muss man ja ein Vollhonk sein, also ohne Literatur, Theater und Oper aufgewachsen, um den allgegenwärtigen, neoliberalen Menschenhass unserer Zeit in aller Konsequenz zu sehen?

 

Drehen wir die Schraube also noch ein kleines Stück weiter. Liebe Leute: Macht euch keine Sorgen um Kollegah und seine Fans. Macht euch Sorgen um die Welt, in der sie aufwachsen müssen, auf die sie irgendwie reagieren müssen.  

 

Also: Ich mag Rap nicht. Aber vielleicht sollte man, anstatt sich über die Verkaufszahlen von Pöpelrappern aufzuregen, einfach mal tief durchatmen und sich fragen, wo all diese Wut eigentlich herkommt, die sie finanziert. 

 

Damals, in den 1980ern, hat Campino auch provoziert. Sich an den Grenzen gerieben, die seine Zeit ihm zugewendet hatte. Eisgekühlter Bommerlunder war die Hymne der Sichausdemlebenwegtrinker. Das war cool, weil die Welt so scheiße war – dann lieber saufen. Inzwischen ist der Mann ganz offensichtlich Bildungsbürger geworden. Er kippt nicht mal mehr seinen täglichen Liter Bommerlunder und hält sich mit fernöstlichem Kampfsport fit. Wahrscheinlich ist er auch Veganer. Hach ja: „Tage wie diese“: So sehr ich diesen Song mag: Man kann es abseits des Hosen-Fandoms drehen und wenden, wie man will: Das ist nun mal akustisches Wohlfühlkino. Wurde ja auch auf CDU-Parteitagen gespielt. Das hat seinen Grund, auch wenn die Hosen sich das verbeten haben.

 

Der Unterschied zwischen Campino und Kollegah ist vielleicht, dass die Welt sich seit 1980 weiter gedreht hat. Und trotz allen Engagements von Campino & Co. nicht besser, schöner oder respektvoller geworden ist. Im Gegenteil. Ein Jammer, weil wir damals dachten, dass es nicht schlimmer kommen könnte – und wir heute merken, wie behütet wird damals waren.

 

Wenn man das einmal begriffen hat, kann man gerne weiter Helene Fischer hören. Oder ABBA. Deren Musik, in voller Lautstärke bei roter Ampel vor meinem Balkon gespielt, genau so nervt wie „Ischfickdeinemutterduopfer“. 

 

 

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Addendum! Nicht falsch verstehen: Ich habe nach wie vor größten Respekt vor Campino. Vor einem Millionenpublikum Stellung zu beziehen und dann auch noch Gefühle zu zeigen, sich zu exponieren, auf die Gefahr hin, deswegen gedemütigt zu werden: Das war ehrenvoll. Davon bräuchten wir mehr. Aber mit seiner Haltung, so wichtig sie ist, ist der Mann: Vergangenheit. Wie wir alle. Establishment. Weil auch er gescheitert ist. 

 

Kollegah, Farid Bang und Konsorten kommen mir niemals auf die Festplatte. Niemals. Niemals. Niemals. Ich lehne sie und die Dumpfbackigkeit und die düstere Weltsicht, die aus ihren Texten spricht, aus tiefstem Herzen ab. 

 

Aber ich kann sie verstehen. 

 

Ein klein wenig habe ich schon Angst, was aus einer Welt wird, in der sich junge Leute, denen eigentlich alles offen stehen sollte, solch kaltherzige, hoffnungsfreie Musik anhören. Aber es ist ihre Welt, ihre Zukunft, ihre Verantwortung. Und wenn wir Menschen über die Jahrhunderte eines geblieben sind, dann: Menschen. 

 

 

Vielleicht mag ich Rap aber auch einfach nur nicht, weil ich das Glück hatte, mit den Hosen groß geworden zu sein. Aber ein ganz kleines bisschen bin ich schon gespannt, was die Kids in 30 Jahren hören. Und was Kollegah dann nervös von seinem Zettel ablesen wird.